Der Artikel definiert den Begriff der ‚Affekttoleranz‘ und erörtert drei wichtige Faktoren, die diese bestimmen sowie ihre Bedeutung für eine verfahrensunabhängige erfolgreichere therapeutische Arbeit an Emotionen.
Was ist Affekttoleranz? Warum ist diese wichtig?
Dr. Robert Stolorow, Co-Autor zahlreicher Bücher zum intersubjektiven Ansatz in der Psychoanalyse, vom dem ich zu meinem Glück im Rahmen meines Promotionsstudium Supervision erhielt, betonte oft, dass die primäre Aufgabe der Therapie der Ausbau der Affekttoleranz sein sollte. Seine Begründung hierfür lautete: Symptome entwickeln sich in der Regel deshalb, weil die Betroffenen ihre affektiven Reaktionen auf Situationen nicht aushalten. Die therapeutische Hilfe zielt in der Regel darauf ab, dem Klienten oder der Klientin zu helfen, sich diesen Emotionen zu stellen und sie zu verarbeiten. Wir können nur dann davon ausgehen, dass unsere KlientInnen bei ähnlichen Erfahrungen künftig resilient hiermit umgehen können (bzw. keine Symptome entwickeln), wenn sie im Laufe der Therapie eine größere Kapazität dafür entwickeln, schwierige affektive Erfahrungen zu bewältigen. Wichtig ist, sich hierbei vor Augen zu führen, dass sowohl die Jung’sche Psychologie als auch der Advaita Vedanta betonen, wie wichtig es für das persönliche wie auch das spirituelle Wachstum ist, mit den gegensätzlichsten menschlichen Erfahrungen umgehen zu können und diese Fähigkeit zu entwickeln.
Die vorhandene Affekttoleranz lässt sich nicht losgelöst von der konkreten Person, Emotion oder Situation ermitteln. Die Fähigkeit, eine bestimmte Emotion erleben und sich ihr aussetzen zu können, schwankt von Person zu Person. Inwieweit jemand eine Emotion ertragen kann, hängt von dieser Emotion ab. Es kann durchaus vorkommen, dass jemand eine bestimmte Emotion besser bewältigt als eine andere. Und auch die Fähigkeit dieses Menschen, ein- und dieselbe Emotion auszuhalten, schwankt je nach Situation oder Zeitpunkt. Für unsere Zwecke können wir hier sagen, dass jemand in einer Situation dann Affekttoleranz für eine Emotion aufweist, wenn eine solche Emotion bei ihm in der besagten Situation keine Symptome auslöst.
Welche Faktoren entscheiden über die Affekttoleranz eines Menschen?
- Emotionale Unterstützung: Die Unterstützung, die jemand für eine Emotion erfährt, ist vielleicht der wichtigste Faktor, der darüber entscheidet, inwieweit dieser Person die Emotion erleben und sich ihr aussetzen kann. Eine solche Unterstützung anderer kann im heutigen Leben stattfinden oder in der Vergangenheit existiert haben und dann verinnerlicht worden sein.
- Innere Einstellung zu einer Emotion: Ein weiterer wichtiger Faktor, der darüber entscheidet, inwieweit jemand eine Emotion erleben und aushalten kann, ist seine Einstellung zu ihr. Hierbei sind die unterschiedlichsten Einstellungen denkbar. So zum Beispiel haben einige Menschen Widerstände gegen unangenehme Emotionen, da sie es für ungesund halten, sich länger mit ihnen abzugeben. Einige glauben, Männer sollten keine Verletzlichkeit zeigen und Frauen weder Ärger noch Wut empfinden. Einige Menschen verstehen nicht, dass das Erleben unangenehmer Emotionen naturgemäß schwierig ist. Schließlich handelt es sich um Stress- und Dysregulationszustände im Gehirn und Körper und es gilt den uns eigenen Widerstand gegen unangenehme Emotionen zu überwinden, um diese erleben und verarbeiten zu können. Man beachte dabei, dass die beiden bislang angesprochenen Faktoren zusammenhängen: Je mehr Unterstützung für eine Emotion gegeben ist, desto förderlicher vermutlich unsere Einstellung ihr gegenüber. Je besser jemand über die Rolle von Emotionen für die körperliche und seelische Gesundheit aufgeklärt ist, desto förderlicher dürfte seine Haltung gegenüber emotionalen Erfahrungen sein.
- Verkörperung einer Emotion: Je mehr eine Emotion in möglichst weiten Teilen des Körpers präsent ist, desto leichter ist es, sie zu erfahren und sich ihr auszusetzen. Mit beiden Armen kann man nicht nur größere Lasten heben, sondern es fällt auch leichter. Eine wissenschaftlichere Erklärung zur Rolle der Verkörperung in Sachen Affekttoleranz basierend auf Erkenntnissen zur physiologischen Seite der Emotionen und Selbstregulation skizziert mein Artikel Wie erreiche ich eine bessere Erfolgsbilanz bei allen therapeutischen Verfahren durch die Verkörperung von Emotionen? Die drei genannten Faktoren – Unterstützung, Einstellung und Verkörperung – hängen zusammen. Je günstiger die eigene Einstellung und je größer die äußere Unterstützung für das Erfahren einer Emotion, desto leichter auch ihre Verkörperung.
Die Beziehung zwischen Affekttoleranz und größerer Ausdehnung der Emotion im Körper
Die Beziehung zwischen der Kapazität für eine Emotion und diesen drei Faktoren geht aus der unten stehenden Grafik hervor:
Emotionale Erfahrungen lassen sich anhand des Ausmaßes der Emotion und der mit ihr verbundenen Intensität (Schwierigkeit) charakterisieren. Es kann sein, dass jemand sogar eine nur schwach ausgeprägte Emotion als extrem heftig (schwer auszuhalten) erlebt, wie Linie 1 anzeigt. Oder jemand erlebt, wie Linie 3 zeigt, selbst stärker ausgeprägte Emotionen als weniger intensiv (schwer zu ertragen). Je größer die Unterstützung für eine Emotion in einer Situation, je besser die Einstellung ihr gegenüber und je mehr sie verkörpert oder ihr Erleben auf größere Areale des Körpers ausgedehnt wird, desto flacher das Affekttoleranzprofil, wie Linie 3 zeigt. Das heißt, die betreffende Person dürfte jede Ausprägung von Emotionen als weniger heftig (schwierig) erleben. Oder man kann bei einem gleich bleibenden Ausmaß an emotionaler Unterstützung und gleich bleibender Einstellung gegenüber einer Emotion das Affekttoleranzprofil der Person in Bezug auf eine Emotion flacher oder leistungsfähiger machen, indem man das an der Emotion beteiligte Körperareal vergrößert. Ist die Emotion stärker ausgeprägt, dabei aber gleichmäßiger im Körper verteilt, dürfte sie in den beteiligten Körperregionen als weniger intensiv oder schwer auszuhalten erlebt werden und so mit geringerer Wahrscheinlichkeit Symptome auslösen.
Eine Verbesserung der Affekttoleranz kann für die Auflösung von Symptomen sorgen und die Resilienz erhöhen, so dass künftig keine Symptome mehr entstehen. Emotionale Unterstützung anzubieten und auf eine bessere Einstellung gegenüber einer Emotion hinzuwirken – etwas, das TherapeutInnen ja untentwegt tun – hilft KlientInnen durchaus, indem es ihre Kapazität in Sachen Affekttoleranz erweitert. Nicht viele therapeutisch Tätige arbeiten jedoch in Verbindung mit Emotionen mit dem Körper. Und selbst diejenigen, die dies tun, versuchen selten, auf ein großflächigeres Erleben von Emotionen im Körper hinzuwirken, um so die Fähigkeit, sich Emotionen auszusetzen weiter auszubauen. Das Verbesserungspotenzial in Sachen verbesserte Affekttoleranz durch mehr Verkörperung von Emotionen ist daher in Verbindung mit Therapieansätzen jeder Art beträchtlich, ob diese ohnehin bereits körperorientiert vorgehen oder nicht.
Bei näherer Betrachtung beschränken sich die vorteilhaften Auswirkungen verkörperter Emotionen nicht nur auf bessere Ergebnisse in Sachen Emotionen. Wie eine größere Affekttoleranz durch Verkörperung von Emotionen unabhängig vom Therapieansatz auch die Therapieerfolge auf der kognitiven, verhaltensbezogenen, körperlichen, energetischen, spirituellen und Beziehungsebene verbessern kann, geht aus meinem Artikel Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Verkörperlichung von Kognitionen sowie zur situativen Einbettung von Emotionen und ihre Bedeutung für Therapieerfolge unabhängig vom therapeutischen Verfahren hervor. Mehr zur Integralen Somatischen Psychologie™ (ISP™), einem komplementären Ansatz, der eigens dazu konzipiert wurde, durch emotionale Verkörperung die Therapieerfolge von Verfahren jeder Art zu verbessern, findet sich in dem Artikel Was ist Integrale Somatische Psychologie (ISP)? Ein Gespräch mit Dr. Raja Selvam. Mehr Informationen dazu, wie sich das Erleben einer umfassenderen Bandbreite an emotionalen Erfahrungen sinnvoll begleiten lässt (einschließlich der in jedem Fall vorhandenen, oft aber übersehenen sensomotorischen Emotionen), so dass sich in Verbindung mit jedem Therapieansatz in jeder Sitzung prinzipiell eine Emotion findet, an der gearbeitet werden kann, ist Gegenstand von ISP-Workshops und -Trainings. Hier geht es zudem darum, psychologische, physische und energetische Mechanismen der Abwehr von emotionalen Erfahrungen zu ermitteln und zu bearbeiten sowie darum, wie eine Expansion des Körpers als auch eine energetische Expansion aussehen kann, damit das Erleben von Emotionen im Körper so weiter gestreut wird, dass die Emotion, der Körper und die Energie reguliert bleiben und eine größere Affekttoleranz entwickelt wird. Ein Terminplan zu angebotenen ISP-Weiterbildungen findet sich auf meiner Website, integralsomaticpsychology.com.