Kurzzusammenfassung: Die Verkörperung von Emotionen wird hier verstanden als die Fähigkeit, emotionale Erfahrungen möglichst weit in den physiologischen Systemen von Gehirn und Körper auszudehnen und sich ihnen länger auszusetzen. Theoretisch wie auch empirisch finden sich Belege für die Wirksamkeit dieses Vorgehens im Hinblick auf Verbesserungen auf der körperlichen, energetischen, kognitiven, Verhaltens-, Beziehungs- und spirituellen Ebene in Verbindung mit therapeutischen und spirituellen Ansätzen jeder Art.
Die Arbeit präsentiert den theoretischen Grund für die Notwendigkeit, Emotionen zu verkörpern und stützt sich dabei auf Wissen aus der Emotionsphysiologie, der biologischen Regulationsphysiologie und über die Beziehung zwischen beidem. Sie präsentiert empirische Beweise für die vielfach positiven Auswirkungen emotionaler Verkörperung und wie diese so angegangen werden kann, dass einerseits keine emotionale Überforderung mit entsprechenden pathologischen Folgen entsteht und dass andererseits die physiologische Regulation die auftauchenden Emotionen nicht im Keim erstickt.
Zuerst wird auf die Wichtigkeit von Emotionen eingegangen, auf die unterschiedlichen Weisen, wie mit ihnen im Rahmen diverser Therapieansätze gearbeitet wird. Zudem geht es um die Frage, warum es physiologisch schwierig ist, unangenehme Emotionen zu erleben und auszuhalten; warum eine Verkörperung von Emotionen ohne physiologische Arbeit mit dem Gehirn und dem Körper, vor allem dem Körper, schwierig ist, und er geht darauf ein, wie Emotionen vollständiger, präziser und mit weniger Schwierigkeiten verkörpert werden können, um unabhängig vom Therapieansatz bessere Ergebnisse zu erzielen.
Zur Bedeutung von Emotionen in der Therapie
Emotionen sind der Kernpunkt der meisten psychotherapeutischen Verfahren.
Fast immer steckt ein emotionales Problem, etwas nicht oder nicht mehr Erträgliches, hinter den Symptomen, die Menschen dazu bringen, sich in Therapie zu begeben. Von daher überrascht es nicht, dass die meisten Psychotherapieansätze davon ausgehen, dass die Aufarbeitung schwieriger emotionaler Erfahrungen oder der Faktoren, die hinter diesen stecken, notwendig ist, um die auftretenden Symptome aufzulösen. Es gibt zunehmend Belege dafür, dass Emotionen, ihre physiologische Expansion im Gehirn und Körper sowie die Fähigkeit, sich diesen auszusetzen, mit kognitiven Verbesserungen (Niedenthal, 2007; Colombetti & Thompson, 2008), Verbesserungen des Verhaltens (Damasio, 1994), der Resilienz (Stolorow, Brandchaft und Atwood, 1995), Individuation (Jung, 1960), des persönlichen und beruflichen Lebenswegs (Khan, 2013; Goodman, Joshi, Nasim & Tyler, 2015) sowie vermehrtem spirituellen Wachstum (Dayananda, 2002) verbunden ist. Die Therapieverfahren unterscheiden sich jedoch im Hinblick darauf, welcher Stellenwert Emotionen beigemessen wird und welche Mischung von Strategien für die Arbeit mit ihnen angewendet wird.
Gängige Strategien für eine auf Emotionen bezogene Arbeit
Zum Zweck der Analyse hier zunächst einmal ein Versuch, verschiedene häufige Strategien zu unterscheiden und zu beschreiben, die bei der Arbeit mit Emotionen therapieübergreifend zum Einsatz kommen. Diese diversen Strategien greifen unterschiedliche Aspekte der Arbeit mit Emotionen auf und werden häufig kombiniert. Hierbei ist zu beachten, dass die Strategien einander vor dem Hintergrund ihrer unverkennbaren Gemeinsamkeiten nicht ausschließen. So zum Beispiel impliziert die Strategie, Klienten dazu zu verhelfen, die Emotion besser zulassen und aushalten zu können, dass hier die Strategie verfolgt wird, sie gewahr werden zu lassen, dass eine bestimmte Emotion vorliegt, damit sie diese bewusster erleben können.
Wenn eine Emotion Mal um Mal Probleme macht, gilt es die mit ihr verbundenen Schwierigkeiten oft auf mehr als eine Weise anzugehen. Zum Beispiel könnte es sein, dass Klienten dazu gebracht werden müssen, die Emotion nicht nur zu erfahren, sondern sie auch auszudrücken. Darüber hinaus sind oft die Entwicklungsdefizite des Klienten in Bezug auf die Emotion das, was darüber entscheidet, wie solche Emotionen bearbeitet werden.
Bei einigen Klienten zum Beispiel ist es angesagt, dass sie ihre Emotionen besser verstehen lernen, während sie zu erleben oder auszudrücken weniger der springende Punkt ist.
Die eingeschlagene Strategie könnte auch davon bestimmt werden, auf welche Weise die Emotion zu den Schwierigkeiten des Klienten beiträgt. War die Emotion zum Beispiel ein auslösender Stimulus für eine Suchterkrankung, wäre es sinnvoll, das Suchtverhalten in den Griff zu bekommen (die konditionierte Reaktion), um zu verhindern, dass dieses den konditionierten Stimulus, die Emotion, verstärkt. Würde stattdessen die Unerträglichkeit einer Emotion als Ursache des Suchtverhaltens betrachtet, wäre es sinnvoller, mehr Fassungsvermögen dafür zu schaffen, sich der Emotion auszusetzen, so dass der Klient oder die Klientin sie sich nicht mit einem Suchtverhalten wie etwa übermäßigem Essen vom Leib halten muss. Verschiedene therapeutische Richtungen sehen Suchtprozesse als Konditionierungsproblem, als Affekttoleranzproblem oder beides. Also liegt es nahe, dass sich verschiedene Strategien für die Arbeit mit Emotionen ausgebildet haben, um all diese Möglichkeiten abzudecken. Aus all den oben genannten Gründen wenden Therapieansätze in der Regel bei der Beschäftigung mit Emotionen gleich etliche dieser Strategien an. Oft unterscheiden sie sich allerdings im Hinblick darauf, welche Strategie im Vordergrund steht. Bei einigen Ansätzen steht also im Mittelpunkt, Emotionen zu verstehen, bei anderen deren Erleben, und bei wiederum anderen geht es eher darum, Emotionen auszudrücken. Es folgt eine Beschreibung der gängigen therapeutischen Strategien für die Arbeit mit Emotionen.
Probleme mit Emotionen lösen sich mitunter einfach dadurch, dass (1) Klienten sich stärker gewahr werden, dass diese entweder tatsächlich oder potenziell vorhanden sind; (2) ihnen geholfen wird, Emotionen zu generieren, wo keine solchen existieren (3) man Klienten diese Emotionen einfach erleben lässt. Der Weg dorthin führt über die erforderliche Psychoedukation, Validierung und Unterstützung. Sind keine Emotionen vorhanden, liegt dies oft daran, dass deren Entstehung in der persönlichen Vorgeschichte der Klienten nicht gefördert wurde. Mitunter ist es auf der therapeutischen Seite wie auch auf Seiten des Klienten oder der Klientin sehr zeitaufwändig und mühsam, Raum für emotionale Erfahrungen zu schaffen. Bei vielen psychotherapeutischen Ansätzen liegt hierin der Kern der Arbeit. Einige Verfahren arbeiten mehr als andere damit, ihre Klienten bei Regressionsprozessen zu begleiten, um Zugang zu Emotionen zu finden und mit ihnen zu arbeiten. Körperorientierte Verfahren gewinnen Zugang zu den Emotionen, indem sie sich den körperlichen Abwehrmechanismen diesbezüglich zuwenden.
Mitunter lösen sich Emotionen einfach dadurch auf, dass sie verstanden werden: Welche Gefühle da sind und welchem Kontext sie zuzuordnen sind. Dass ich es etwa mit einer unerfüllten Sehnsucht zu tun habe und dass diese in die Vergangenheit gehört und mit meiner Mutter zusammenhängt, und nichts mit der Gegenwart und der Beziehung zu meiner Frau zu tun hat. Dieser Punkt kann darüber entscheiden, wie es mit der Ehe weitergeht: mit Heilung und Wachstum, oder mit Scheidung und Reinszenierung alter Dramen.
Dann wieder verändern sich Emotionen dadurch, dass auf der kognitiven Ebene Veränderungen eintreten. Es wandelt sich etwas an den Glaubenssätzen und mutmaßlichen Bedeutungen, die als Antrieb für die Emotionen erkannt werden. Ein Punkt, für den viele gängige Psychotherapieansätze kritisiert werden, ist der, das sie dazu neigen, mehr Wert auf das Verstehen von Emotionen zu legen als darauf, diese bewusst und tiefer zu erfahren.
Mitunter werden Emotionen geheilt, indem Klienten den Situationen, Erinnerungen oder Triggern, die diese hervorrufen immer wieder ausgesetzt werden, wie bei der zu den Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie gehörigen Expositionstherapie.
Dann wieder lassen sich Emotionen unter Umständen auflösen, indem das mit ihnen verbundene Abwehrverhalten eingedämmt wird, so dass die Emotionen nicht zwanghaft über Suchtprozesse wie etwa Esssucht ausagiert werden. Das ist dort sinnvoll, wo es sich bei den Emotionen um konditionierte Reize im Sinne der Prinzipien einer klassischen Konditionierung handelt, die pathologische konditionierte Reaktionen auslösen.
Mitunter werden Emotionen dadurch geheilt, dass sie in der Therapie oder dem Leben einen angemessenen Ausdruck finden können, wobei dieser Ausdruck bei einigen Ansätzen kathartischer ausfällt als bei anderen.
In manchen Fällen können Emotionen sich dadurch auflösen, dass der Klient oder die Klientin Maßnahmen ergreift, die in diesem Zusammenhang angemessen sind. Etwa bei Schuldgefühlen wegen begangenen Unrechts etwas zu dessen Wiedergutmachung unternimmt. Oder sich aus einer Beziehung zurückzieht, die ihm oder ihr emotional schadet.
Es kann auch vorkommen, dass Emotionen und die von ihnen verursachten Symptome durch Regulation physiologischer Vorgänge im Gehirn oder Körper aufzulösen oder in den Griff zu bekommen sind. Eine solche Regulation kann über Medikamente, Meditation, die Ernährung, Bewegung, Körperarbeit, Energiearbeit oder eine andere Technik herbeigeführt werden, wenn feststeht oder anzunehmen ist, dass die Ursache des emotionalen Problems in Defiziten oder einer Dysregulation physiologischer Art im Gehirn oder Körper liegt. Angesichts des zunehmenden Ausmaßes an Dysregulation und Stress physiologischer Art bei den heutigen Klienten und der wachsenden Vormachtstellung des psychopharmakologischen Ansatzes der Psychiatrie – der die Tendenz zeigt, die meisten psychischen Probleme einschließlich emotionaler Störungen auf Grundlage der Annahme zu diagnostizieren und zu behandeln, dass diesen eine physiologische Dysfunktion zugrunde liegt – scheint die gesamte Psychologie sich heute mehr als je zuvor in die Richtung einer Regulation physiologischer Vorgänge im Gehirn oder restlichen Körper als alles beherrschende Strategie für den Umgang mit emotionalen sowie sonstigen psychologischen Störungen zu bewegen. Und diese Tendenz, die Regulation des physiologischen Systems als primäre Strategie zur Lösung psychologischer Probleme einzusetzen, hat scheinbar sogar jene neu entstehenden Ansätze in der Psychologie erfasst, die den Körper oder den Aspekt der Energie stärker in ihre therapeutische Arbeit einbeziehen.
Da alle psychologischen Erfahrungen auf die physiologischen Abläufe im Gehirn und Körper zurückgehen, kann dann, wenn diese extrem in der Regulation gestört sind, keine kohärente Erfahrung psychologischer Art entstehen. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass in einer Situation, in der Gehirn und Körper stark dysreguliert sind, eine stärkere physiologische Regulation von beidem für die therapeutische Arbeit förderlich sein kann, und zwar bezogen auf alle Aspekte des psychischen Erlebens, von Kognitionen und Emotionen bis zum Verhalten. Eine übertriebene physiologische Regulation des Gehirns und Körpers allerdings kann bei der psychologischen Arbeit kontraproduktiv sein. Näheres hierzu zeigt der Artikel Wie vermeidet man beim Verfolgen von Körperempfindungen, dass Emotionen sich auflösen oder verfremdet werden How to avoid destroying emotions when tracking body sensations? auf.
Zusätzlich zu Obigem stößt man auch auf Therapieansätze, die den Weg einschlagen, so lange bei einer Emotion zu verweilen, wie es nötig ist, um diese zu transformieren. Oder ihre Strategie besteht darin, bei Klienten mehr Raum dafür entstehen zu lassen, sich Emotionen, vor allem schwierigen Emotionen, auszusetzen. Hierbei sei darauf hingewiesen, dass der Ausbau dieser Fähigkeit, sich einer Emotion auszusetzen und mit ihr umzugehen dabei helfen dürfte, so lange bei dieser Emotion zu verweilen wie es nötig ist, damit diese sich transformiert und dass dies wiederum die Fähigkeit erhöhen dürfte, die entsprechende Emotion zuzulassen und auszuhalten. So nahe diese beiden Strategien beieinander liegen – sie sind nicht exakt identisch, da die jeweilige Intention dahinter eine andere ist. Auf beide wird noch näher eingegangen, nachdem zunächst einmal die Beziehung zwischen dem Raumschaffen für eine Emotion und Resilienz erörtert wird.
Emotionen, die Fähigkeit, sich diesen auszusetzen und Resilienz
Bei der Aufarbeitung von Emotionen in Verbindung mit einer bestimmten Situation wird in der Regel eine Kombination der oben ausgeführten Strategien angewandt. Schließlich tragen die verschiedenen Vorgehensweisen jeweils anderen Aspekten der Arbeit mit Emotionen Rechnung, die für deren Auflösung gefragt sind. Eine erfolgreiche Arbeit mit jeder der oben genannten Strategien jedoch – und sei es mit der simplen Strategie, den Klienten einfach dazu zu bringen, eine vorhandene Emotion bewusst wahrzunehmen – verlangt jedoch, dass die Person in einem gewissen Umfang in der Lage ist, die entsprechende Emotion zu erleben und zuzulassen.
Umgekehrt kann man davon ausgehen, dass mit Erfolgen im Hinblick auf jeden beliebigen Aspekt der emotionalen Arbeit – und sei es, dass ein Klient einfach nur eine vorhandene Emotion wahrnimmt oder versteht – die Fähigkeit des Klienten wächst, dieser Emotionen zukünftig in gewissem Umfang ins Gesicht zu sehen und sich ihr auszusetzen. Besteht die Schwierigkeit mit einer Emotion jedoch darin, dass die Person sie nicht erträgt (was einigen Ansätzen zufolge der gängigere Fall ist), sollte ihr geholfen werden, die entsprechende Fähigkeit zu entwickeln, damit sie die Emotion in der Intensität zu ertragen lernt, in der sie auftritt, damit sie kein weiteres Mal zum Problem wird. Nur dann kann man den Klienten als resilient im Hinblick auf eine bestimmte emotionale Erfahrung wie etwa Trauer betrachten. Hier wird der Begriff ‚Resilienz‘ in Bezug auf eine Emotion als die Fähigkeit verstanden, zukünftig keine auf die Emotion zurückgehenden Symptome mehr zu entwickeln oder aber als die Fähigkeit, jedes aufgrund der Emotion entstehende Symptom früher oder später auch wieder aufzulösen.
Wie wichtig der Ausbau der Fähigkeit ist, sich schwierigen emotionalen Erfahrungen aussetzen zu können (eine Seite der Arbeit mit Emotionen, die letztgenannte Strategie oben), wird in der Psychoanalyse als ein zentraler, wenn nicht sogar der wichtigste Faktor beschrieben, der über die psychische Gesundheit eines Menschen entscheidet (Stolorow, Brandchaft und Atwood,1996). Das Vermögen, Gegensätze im menschlichen Erleben
auszuhalten, vor allem am unangenehmen Ende des Spektrums, gilt in der analytischen Psychologie Jungs als das, was in erster Linie über die seelische Entwicklung eines Individuums entscheidet (2001). Ebenfalls als wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste Faktor gilt diese Fähigkeit auch im Hinblick auf die spirituellen Wachstumsmöglichkeiten des Individuums (Dayananda, 2002).
Wichtig ist, sich klar zu machen: ganz gleich, welcher Art eine unerträgliche Erfahrung ist – es könnte sich auch durchaus um eine Kognition oder ein Verhalten handeln – letztlich ist sie deshalb unerträglich, weil die damit verbundene Emotion unerträglich ist. Und da es adäquate wissenschaftliche Beweise dafür gibt, dass das Vorliegen von Informationen über die eigenen Emotionen bessere Ergebnisse auf der kognitiven, verhaltensbezogenen sowie der persönlichen wie auch beruflichen Ebene hervorbringt, gilt: wenn Emotionen stärker verkörpert werden (das heißt, mehr von einer Emotion wird auf physiologischem Wege über ein größeres Areal des Gehirns und Körpers hinweg erzeugt und die Person ist eher in der Lage, sich der Emotion auszusetzen und kann deshalb auch länger bei ihr verweilen), so stehen dem Gehirn mehr Informationen in Form von Emotionen zur Verfügung und es hat mehr Zeit, sie zu verarbeiten, was Verbesserungen im Hinblick auf alle Facetten des Lebens und der Erfahrungen nach sich zieht.
Alle oben erörterten Wege oder Strategien der therapeutischen Auseinandersetzung mit Emotionen tragen mehr oder weniger dazu bei, sich Emotionen besser aussetzen zu können. Allerdings entspricht die Strategie, einfach so lange bei einer Emotion zu verweilen, bis diese sich wandelt oder darauf hinzuarbeiten, dass der Klient die Emotion eher aushalten kann, am ehesten dem Ziel, mehr Affekttoleranz zu entwickeln beziehungsweise das Vermögen zu erhöhen, die Gegensätze auszuhalten, die das menschliche Erleben kennzeichnen. Betrachten wir uns diese beiden Strategien, die Schwierigkeiten bei ihrer Umsetzung, die Gründe hinter diesen Schwierigkeiten nun einmal näher. Sehen wir uns außerdem an, um welche Informationen, Strategien und Methoden wir die derzeitig praktizierten Formen therapeutischer Arbeit rund um das Thema Emotionen erweitern können, um Klienten effektiver und effizienter zu befähigen, sich einer Emotion umfassender, intensiver und anhaltender auszusetzen und dabei auf weniger Widerstand und Schwierigkeiten überwinden zu müssen.
Zu der Strategie, einfach so lange bei einer Emotion zu verweilen, bis diese sich wandelt
Emotionen oder die von ihnen verursachten Symptome lassen sich mitunter allein dadurch auflösen, dass jemand sich den beteiligten Emotionen eben so lange wie nötig aussetzt. Dieser Weg wird mitunter als Akzeptieren und Bejahen des eigenen Gefühlszustands beschrieben und als der Ansatz, bei diesem solange zu verweilen, bis er sich ganz von selbst in etwas anderes verwandelt. Von allen beschriebenen Strategien scheint diese – zusammen mit der proaktiveren Strategie, mehr Raum dafür zu schaffen, schwierige emotionale Erfahrungen zulassen und aushalten zu können – am vielversprechendsten, wenn es darum geht, dass jemand auch auf lange Sicht eher in der Lage sein wird, mit schwierigen emotionalen Erfahrungen umzugehen. Allerdings bietet der Ansatz, lediglich lange genug bei einer Emotion zu verweilen, für sich genommen keine Hinweise zum Umgang mit der möglicherweise auftretenden Heftigkeit emotionaler Erfahrungen bis hin zur Dekompensation, die Therapeuten aus gutem Grund fürchten. Hinzu kommt, dass, das bloße Verweilen bei einer aufsteigenden Emotion, etwa der Trauer im Brustraum aus Gründen, die später noch klarer werden dürften womöglich nicht nur die erlebte Trauer noch unerträglicher macht, sondern zudem auch eine physiologische Dysregulation dort auslösen kann, die unter Umständen gravierende psychophysiologische Symptome wie etwa Asthma nach sich zieht. Von daher ist es verständlich, dass dies in so manchem therapeutischen Kontext nicht unbedingt die Strategie ist, die am bereitwilligsten angewandt wird, zumindest nicht ohne das Ventil anzubieten, die Emotion auszudrücken oder zuzuordnen. Und selbst wenn sie angewandt wird, kann das Fehlen von Empfehlungen, wie Klienten sich dem gefahrlos und auf produktive Weise aussetzen können, ohne davon überfordert zu werden oder zu dekompensieren, die Wirksamkeit dieser Strategie einschränken.
Zur Strategie einer proaktiven Steigerung der Fähigkeit, Emotionen zuzulassen
Jede Arbeit mit Emotionen, ob diese den Körper mit einbezieht oder nicht, kann potenziell die Fähigkeit fördern, Emotionen zu erfahren und zuzulassen. Allerdings sind nur wenige Ansätze proaktiv darauf ausgerichtet, Klienten mit der expliziten klinischen Strategie unter die Arme zu greifen, die Fähigkeit auszubauen, sich emotionalen Erfahrungen – vor allem den unangenehmen – auszusetzen. Angesichts des bei uns allen naturgemäß bestehenden psychischen Widerstands gegen unangenehme Emotionen und der Tatsache, dass es heute nur wenige psychotherapeutische Richtungen gibt, die betonen, wie wichtig es ist, die Fähigkeit zum Zulassen emotionaler Erfahrungen auszubauen, ist dies nur verständlich.
Wenn emotional Erlebtes außerordentlich schwer zu ertragen ist, handelt es sich letztlich um Erfahrungen, die im Gehirn oder Körper – vor allem in Letzterem – unerträglich sind. Die meisten Therapieansätze jedoch vernachlässigen den Körper und seine Rolle bei emotionalen Erfahrungen und beschneiden sich so in ihrer Wirksamkeit, wenn es darum geht, therapeutisch an Emotionen zu arbeiten und die Toleranzschwelle für diese zu erhöhen.
Ansätze, die nichtsdestotrotz in Verbindung mit emotionalen Erfahrungen über den Körper arbeiten, sind besser dazu in der Lage, die Toleranzschwelle für Emotionen heraufzusetzen, indem der Körper als zunehmend größerer ‚Container‘ – als ‚Gefäß‘, das all dem Raum bietet – herangezogen wird . Allerdings neigen solche Ansätze entweder dazu, den Körper herunter zu regulieren, um Emotionen herunter zu regulieren, oder sie bearbeiten die körperlichen Abwehrmechanismen gegen Emotionen, um besser an das emotionale Erleben heranzukommen. Wenn sie Emotionen in ihre Arbeit einbeziehen, ruht der Fokus tendenziell eher auf dem Ausdruck der Emotionen (kathartisch oder anderweitig) als auf deren Erleben. Selbst wenn sie darauf ausgerichtet sind, die Toleranzschwelle für Emotionen zu erhöhen ohne diese durch Ausdruck zu externalisieren, schränkt sie ein fehlendes adäquates Verständnis der emotions- und der der regulationsphysiologischen Vorgänge und der Beziehung zwischen beidem aus Gründen, die an späterer Stelle noch klargestellt werden ein, wenn es darum geht, die Fähigkeit von Klienten zu stärken, sich Emotionen aussetzen zu können.
Die proaktive Strategie, eine Entwicklung anzustoßen, die die Toleranzschwelle für schwer erträgliche Emotionen höher werden lässt, könnte mit größeren Risiken verbunden sein als die passivere Strategie, lediglich so lange bei einer Emotion zu bleiben, bis diese sich transformiert. Der Klient oder die Klientin könnte emotional überfordert sein und dekompensieren, zumindest wenn nur unzureichend verstanden wird, wie sich der Körper regulieren lässt, während emotionale Erfahrungen durchlebt werden, was diese Risiken minimiert. Deshalb und da oft das Verständnis fehlt, welche vielfältigen Vorteile damit verbunden sind, mit Hilfe des Körpers als zunehmend größerem Container mehr Raum dafür zu schaffen, sich Emotionen auch länger auszusetzen, ist es nachvollziehbar, dass Therapeuten noch weniger geneigt sind, die proaktive Strategie anzuwenden (bei Klienten mehr Kapazität dafür zu entwickeln, sich einer Emotion auszusetzen) als die passivere Strategie, solange bei einer Emotion zu verweilen, bis sie sich transformiert.
Befassen wir uns jetzt mit der Erörterung wichtiger Ideen und Erkenntnisse aus der Fachliteratur zu Emotionen, der Emotionsphysiologie, der Verkörperung von Emotionen und der biologischen Regulationsphysiologie, um zu verstehen, warum es sinnvoll ist, Emotionen zu verkörpern, sie von möglichst weiten Teilen des Gehirns und des physiologischen Systems mittragen zu lassen und die Fähigkeit auszubilden, sich diesen über eine längere Zeit auszusetzen. Setzen wir uns zunächst einmal näher mit der Idee auseinander, sich einer Emotion auszusetzen.
Was hat es mit der Fähigkeit auf sich, sich einer Emotion auszusetzen?
Eine Emotion zu verkörpern bedeutet, in der Lage zu sein, die Emotion physiologisch in möglichst weiten Teilen des Gehirns und Körpers zu erleben und sich ihr für längere Zeit aussetzen zu können. Wie stark sich Menschen einer Emotion aussetzen können, unterliegt innerhalb der Bevölkerung beträchtlichen Schwankungen. Man kann dabei die Heftigkeit der Emotion im Sinn haben und wie lange jemand sich mit ihr zu befassen vermag. Wie intensiv und wie lange eine Emotion von jemandem erlebt werden muss, damit ein akutes Symptom verschwindet oder sich langfristig die Resilienz erhöht, variiert je nach Person.
Sowohl die Heftigkeit der Emotion als auch die Dauer der Beschäftigung mit ihr kann man mit Hilfe psychologischer sowie physiologischer Strategien so steuern, dass die Gefahr einer emotionalen Überforderung und Dekompensation gemindert wird. Bei diesen Strategien geht es um einen Balanceakt zwischen einem tieferen Sicheinlassen auf die Emotion einerseits und einem hinreichend regulierten physiologischen Zustand andererseits. Gefragt sind Strategien, die auf einem Verständnis der physiologischen Seite von Emotionen und Regulation sowie der Beziehung zwischen diesen beiden Faktoren aufbauen. Mit diesen Strategien lässt sich auch steuern, ob eine Emotion physiologisch nur oberflächlich oder tief verkörpert werden soll – je nachdem, wozu die betreffende Person in der Lage ist. Da die Schwelle, die im Hinblick auf die Heftigkeit und Dauer der Emotion überschritten werden muss, damit Symptome entstehen, je nach Person unterschiedlich ist, sind auch die Voraussetzungen unterschiedlich, unter denen sich Symptome auflösen.
So zum Beispiel reichte es bei einer Klientin von mir, die eine Trauer in sich wahrnahm, die sie zunächst im oberen Brustraum und dann im Gesicht verspürte, schon aus, sie dabei zu begleiten, sich dieser Trauer nur ein wenig auszusetzen, und das nicht einmal für lange Zeit, und schon kam es zu einer beträchtlichen Linderung ihrer Asthmasymptome.
Bei einer anderen Person, deren Symptom in Panikattacken bestand, hieß es auf einem hohen Angstniveau zu arbeiten und die Angst für viel länger (über vierzig Minuten) in so gut wie jeden Teil ihrer physiologischen Systeme hinein auszudehnen, damit das Symptom sich legte.
In wieder einem anderen Fall (dieses Mal eine Klientin mit dem Symptom Migräne, die als Kind beinahe durch einen Stromschlag zu Tode gekommen war) war es nötig, sie recht lange einem hohen Maß an heftigster Angst auszusetzen und sie auszubremsen, wenn sie im Begriff war, sich von ihrer Angst über Tränen zu entlasten, um das Symptom komplett loszuwerden.
Diese Beispiele zeigen einerseits, wie ausgeprägt die individuellen Unterschiede sind, wenn es darum geht, in welchem Umfang Fähigkeiten aufgebaut werden müssen, wieviel Zeit benötigt wird, wie heftig die Emotion erlebt werden und wie umfassend die Expansion im Körper sein muss, damit das Symptom sich auflöst. Daneben belegen sie, mit welcher Effizienz die Verkörperung von Emotionen zur Symptomauflösung führen kann.
Warum fällt es schwer, unangenehme emotionale Erfahrungen zu akzeptieren und sich ihnen auszusetzen?
Die Fähigkeit, sich einer Emotion auszusetzen (vor allem eine, mit der wir uns schwer tun), fällt uns nicht in den Schoß. Das kommt daher, dass die Erfahrung einer unangenehmen Emotion physiologischen Ursprungs ist und in unserem Gehirn oder Körper entsteht, indem dort zunächst einmal Stress und Dysregulation entstehen (Sapolsky, 1998; Pert, 2001; Damasio, 2004). Da die lebenserhaltenden, unbewussten und unwillkürlichen Regelkreise in unserem Gehirn darauf aus sind, stets für eine Linderung von Stress und Dysregulation in unserem Gehirn und den physiologischen Systemen unseres Körpers zu sorgen, tragen wir alle einen unbewusst und unwillkürlich entstehenden Widerstand gegen unangenehme Emotionen in uns.
Genau hierauf bezog sich Freud (Laplanche & Pontalis, 1998), als er darauf verwies, dass in jedem gesunden Organismus eine Aversion gegen Schmerz und eine Ausrichtung auf Lust (die beiden Seiten des Lustprinzips) anzutreffen sei. Zu diesem universell angeborenen Widerstand kommt hinzu, dass das Individuum womöglich so manche Signale von seiner Familie und Kultur (sowie von der Schule und anderen Bildungseinrichtungen) mitbekommen hat, die dann zur Basis eines psychischen Widerstands dagegen werden, eine unangenehme Emotion auch nur entstehen zu lassen und zu erfahren, geschweige denn, in angemessenem Umfang die Fähigkeit zu entwickeln, sich ihr für eine gewisse Zeit auszusetzen.
Bei angenehmen emotionalen Erfahrungen hingegen sieht die Sache anders aus. Da mit ihrer Entstehung eine Abnahme von Stress und Dysregulation physiologischer Art im Gehirn und Körper verbunden ist, entsteht nicht der naturgemäße Widerstand wie bei unangenehmen Emotionen. Regt sich im Einzelfall dennoch ein Widerstand gegen angenehme emotionale Erfahrungen, so ist er oft psychologischer Art und geht zum Beispiel auf die Herkunft aus einem familiären Umfeld zurück, in dem aus dem einen oder anderen Grund der Ausdruck positiver Emotionen wie etwa der von Glücksgefühlen nicht erlaubt ist.
Wie entstehen Emotionen physiologisch betrachtet im Gehirn und Körper? Und wie erfolgt die Abwehr von Emotionen?
Wir haben bereits einen Blick auf die wesentliche Erkenntnis geworfen, dass unangenehme Emotionen physiologisch im Gehirn und Körper dadurch entstehen, dass diese mehr oder weniger dysreguliert oder unter Stress gesetzt werden. Angenehme emotionale Erfahrungen zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass Stress durch sie reguliert und reduziert wird. Konkret gibt es eine Reihe von Wegen, auf denen Gehirn und Körper physiologisch daran beteiligt sind, Emotionen hervorzubringen wie auch abzuwehren. Die Integrale Somatische Psychologie (ISP) hat sieben allgemeine Mechanismen identifiziert, über die beides erfolgen kann, die alle bis dato ermittelten zentralen Erkenntnisse erklären, die in universitären Studien und in der Körperpsychotherapie ermittelt wurden.
Zur den wichtigsten Erkenntnissen von Untersuchungen zur Emotionsphysiologie (auf die an späterer Stelle noch näher eingegangen wird) gehört die, dass bei Emotionen – vor allem solchen, die hartnäckig fortbestehen oder überwältigend heftig sind – irgendwann schließlich auf der physiologischen Ebene das gesamte Gehirn und der gesamte Körper beteiligt sind. Unangenehme Emotionen sind, da sie durch Stress für das Gehirn und die physiologische Basis des Körpers entstehen, grundsätzlich unangenehm. Individuen unterscheiden sich im Hinblick darauf, inwieweit sie diese ertragen können. Oft wird eine Fülle psychologischer und physiologischer Abwehrmechanismen eingesetzt, um die unangenehmen Emotionen zu bewältigen oder um zu vermeiden, dass diese überhaupt entstehen oder erfahren werden. Mit physiologischen Abwehrmechanismen wird versucht, die Erfahrung einer schwierigen Emotion zu minimieren, indem die physiologische Beteiligung des Gehirns an möglichst vielen Stellen reduziert und mitunter sogar komplett eliminiert wird. Ein gängiger Abwehrmechanismus ist die Kontraktion der Atemmuskulatur, um die Intensität einer emotionalen Erfahrung zu mindern.
Physiologische Abwehrmechanismen gegen Emotionen bleiben jedoch nicht ohne Folgen. Sie beeinträchtigen die physiologischen Funktionen nicht nur in der offenkundig beteiligten Region. So zum Beispiel kann die Kontraktion der Atemmuskulatur die Funktionsfähigkeit des gesamten Organismus‘ einschränken, da sie eine lebenswichtige biologische Funktion, die Atmung, stört. Menschen, die sich durch Kontraktion der Atemmuskeln vor Emotionen schützen, tragen am Ende möglicherweise nicht nur Symptome im Bereich der Atemwege davon, also zum Beispiel Atemprobleme, sondern auch Symptome bei anderen lebenswichtigen Organen wie etwa dem Herzen (Bradykardie oder ein abnormal langsamer Herzschlag) oder Symptome in einem beliebigen anderen Teil des physiologischen Systems. So können durch das zur Abwehr von Emotionen eingeschränkte Funktionieren des Herz-Kreislauf-Systems wegen der beeinträchtigten Atmung etwa Symptome in den Extremitäten wie eine allgemeine Schwäche der Beine und Arme oder kalte Hände und Füße entstehen.
Wie die physiologische Abwehr einer Emotion in bestimmten Regionen am Ende bewirken kann, dass diese Emotion in anderen Regionen, in denen Emotionen generiert werden, noch schwerer zu ertragen ist
Werden physiologische Prozesse in dem nötigen Umfang ‚gedrosselt‘, um die Erfahrung einer schwierigen Emotion zu eliminieren, kann dies, wenn es nicht vollständig gelingt, paradoxer Weise in Regionen, aus denen sie sich nicht komplett verdrängen lässt, bewirken, dass die Emotion als noch unerträglicher erlebt wird. Das liegt daran, dass jede in den physiologischen Abläufen des Gehirns und Körpers entstehende Dysfunktion (wie sie durch die physiologische Abwehr der Emotion in irgendeiner Region zustande kommt) mit einiger Wahrscheinlichkeit die Funktionsfähigkeit des gesamten Organismus‘ drosselt.
Es besteht eine komplexe wechselseitige Abhängigkeit zwischen den einzelnen physiologischen Systemen, wenn es darum geht, die Gesundheit und das Wohlbefinden des Organismus insgesamt aufrecht zu erhalten. Ein ungehinderter Fluss in Nervensystem und Blutbahn zu den unterschiedlichen Körpersystemen ist grundlegend wichtig für den Erhalt eines optimalen biologischen Funktionierens im Gesamtorganismus. Ein physiologisches Abschalten oder Herunterfahren bestimmter Teile des Organismus mindert dessen Gesundheit und Funktionsfähigkeit insgesamt.
Jede Drosselung von Funktionen irgendwo im Organismus bedeutet ein erhöhtes Ausgangsniveau an Stress und Dysregulation im Gesamtorganismus. Genau das macht die Erfahrung einer unangenehmen Emotion – bei der es sich ja definitionsgemäß um einen Stress- und Dysregulationszustand handelt – in der begrenzten Region des physiologischen Systems, in der sie generiert wird, nur um so unerträglicher, da aufgrund der Abwehr in anderen Regionen physiologisch bereits standardmäßig ein höherer Grundpegel an Stress und Dysregulation besteht. Eine unangenehme Emotion nur in bestimmten Regionen zu generieren, während sich andere Regionen des Gehirns und Körpers aus physiologischer Sicht gegen sie sperren, lässt sich damit vergleichen, einer Person, die schon unter ihrer derzeitigen Last wankt, noch mehr aufzubürden. Generell gilt: je höher das Ausmaß und Stress und Dysregulation, das bei Erfahrungen wie Emotionen beteiligt ist, desto unerträglicher wird die Erfahrung naturgemäß sein. In einem solchen Fall kommen der Stress und die Dysregulation, die damit verbunden sind, eine Emotion in einer Region hervorzurufen, noch zu dem allgemeinen Stress und der Dysregulation hinzu, die dort ohnehin schon erlebt werden, da anderenorts im physiologischen System mit seinen ausgeprägten Wechselwirkungen die Funktion bereits gedrosselt wurde, um die Emotion abzuwehren.
Es gibt noch einen weiteren Grund, warum eine unangenehme Emotion, die in einem begrenzten Körperareal entsteht, als unerträglicher erlebt wird als wenn sie mehr im Körper verteilt entstünde. Wir haben bereits gesehen, wie der generelle Stress und die Dysregulation in einer Region, in der die Emotion entsteht, durch den Umstand, dass andere Regionen des physiologischen Systems sich ausgeklinkt haben, die Erfahrung schwerer erträglich machen und den naturgegebenen Widerstand gegen das Generieren der Emotion in dieser Region erhöhen kann. Auch in den begrenzten Regionen, in denen die Emotion dann noch erzeugt wird, führt das oft zu Abwehr, um den Leidensdruck zu mindern. Aufgrund der wechselseitigen physiologischen Abhängigkeitsverhältnisse kann dies wiederum den Stress und die Dysregulation noch weiter steigern, und zwar nicht nur lokal, sondern überall im physiologischen System. Dies bietet uns eine wissenschaftliche physiologische Erklärung für eine Aussage, die man bei der Aufarbeitung von Emotionen oft hört: dass die Hälfte der Schwierigkeiten oder des Leidens bei einer emotionalen Erfahrung auf das Konto des Widerstands gegen diese geht.
Warum sind Emotionen wichtig? Und warum lassen sie sich nie komplett unterbinden?
Warum Emotionen nicht gleich unterbinden? Die landläufige Meinung zu Emotionen lautete immer, Emotionen seien irrational, gegen jede Vernunft und erfüllten von daher keinerlei Funktion (Damasio, 2004). Ein Grund, warum sie sich nicht komplett ausschalten lassen, ist vielleicht der, dass das Umfeld unablässig Impulse liefert, auf die hin sie generiert werden und dass sie somit nicht vollständig zu umgehen sind. Ein weiterer Grund könnte darin bestehen, dass die physiologischen Konsequenzen, die es nach sich zieht, einer Emotion durch Drosselung physiologischer Funktionen den Garaus zu machen, ziemlich gravierend sein können und durchaus ein ernstes Symptom wie etwa Chronic Fatigue auslösen mögen. Oft ist das – die Notwendigkeit, die Entstehung eines ernsteren und stärker beeinträchtigenden körperlichen Symptoms zu vermeiden – der Grund dafür, warum offenbar eine Kombination aus psychologischen und physiologischen Abwehrmechanismen (statt rein physiologische) wirksam wird, um eine schwierige emotionale Erfahrung zu bewältigen oder auszuschalten.
Noch fundamentalere Gründe, warum Emotionen nicht komplett unterbunden werden können
Wie wir bereits gesehen haben, gibt es einen noch wichtigeren Grund, warum Emotionen langfristig nicht komplett abgeschaltet werden können: Weil es die kognitiven, affektiven und verhaltensbezogenen Funktionen eines Menschen beeinträchtigen würde, mit allen körperlichen, energetischen, beziehungsmäßigen und spirituellen Folgen, privat und im Berufsleben. Wie wir bereits sehen konnten – und es schadet nicht, dies noch einmal zu wiederholen, da es nicht allgemein bekannt ist – belegen die gesammelten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Emotionen und Verhalten, Emotionen und Kognitionen, Emotionen und deren Verkörperung sowie Emotionen und deren Konsequenzen im Privat- und Berufsleben hinreichend, dass Emotionen entscheidend für unser optimales Funktionieren insgesamt sind. Nicht nur auf affektivem Gebiet, sondern auch für Kognitionen und Verhalten, und das nicht nur in persönlicher Hinsicht, sondern auch beruflich. Das heißt, Emotionen (als Informationen) scheinen unabdingbar für ein optimales Funktionieren bezogen auf alle Aspekte und auf allen Gebieten. Vor diesem Hintergrund ist es absolut sinnvoll, dass sie längerfristig nicht unterbunden bzw. abgeschaltet werden können, ohne dass es schwerwiegende Folgen hat.
Die klinische Strategie, sich mit den Emotionen und deren Verkörperung zu befassen, kann also nicht nur helfen, emotionale Probleme aufzulösen, sondern auch kognitive und Probleme auf der Verhaltensebene. Das gilt selbst im Rahmen von Therapieverfahren wie etwa kognitiven oder Verhaltenstherapien, bei denen Emotionen nicht offenkundig im Mittelpunkt stehen.
Zurück zu wichtigen Erkenntnissen aus der Emotionsphysiologie
Eine merkwürdige Tatsache in Bezug auf die physiologische Seite der Emotionen ist die, dass es noch heute Wissenschaftler gibt, die glauben, Emotionen hätten nichts mit dem Körper zu tun und der Körper sei nur daran beteiligt, auf eine Emotion zu reagieren – hervorgebracht worden sei diese ausschließlich im Gehirn. Rolle und Verhalten der Emotionen im Körper sind nicht weithin bekannt. Zugegebenermaßen wäre es schwierig, die mit der Emotion verbundenen körperlichen Empfindungen von denen zu trennen, die Teil des Verhaltensrepertoires sind, das die Reaktionen auf die Emotion ausmacht. Dennoch widerspricht die Behauptung, dass dies für alle Körperempfindungen gälte, der Theorie einer kumulativen Wirkung, der entsprechenden Evidenz sowie den landläufigen alltäglichen Erfahrungen im Hinblick auf die Rolle des Körpers bei emotionalen Erfahrungen.
Aus philosophischer Sicht lässt es sich ohnehin kaum rechtfertigen, das Erleben einer Emotion vom Erleben eines Verhaltens zu trennen, das eine Reaktion auf diese Emotion darstellt. Schließlich stößt man hinter jedem Verhalten immer auf eine Emotion, zumindest wenn man ‚Emotion‘ nicht auf primäre und sekundäre Emotionen beschränkt versteht, sondern auch sensomotorische Emotionen berücksichtigt. Etwa das dumpfe Gefühl, etwas tun oder nicht tun zu wollen. Als Beleg dafür, dass das Verhalten nicht vom Fühlen zu trennen sei, erfolgt oft der Hinweis auf die Ethymologie und die Tatsache, dass in dem lateinischen Begriff ‚e-motio‘ (Gefühl) das Wort ‚motio‘ (Bewegung) steckt. Vom theoretischen Standpunkt spiegelt sich die Untrennbarkeit von Emotion und Verhalten in der Fachliteratur in dem Eingeständnis, dass jedes Verhalten eine emotionale Komponente aufweise. Bei näherem Hinsehen stellt sich, wie Sapolsky (2017) in seinem neueren Buch darlegt, zudem heraus, dass die strenge Trennung zwischen Kognition und Emotion wissenschaftlich ebenfalls nicht haltbar ist.
Da das Wissen um die Rolle des Körpers bei emotionalen Erfahrungen noch alles andere als Allgemeingut ist und wir vorhaben, uns dieses Wissen zunutze zu machen, um Klienten dabei zu begleiten, durch Schaffung von mehr Raum für Emotionen im Körper die eigene Fähigkeit auszubauen, sich diesen auszusetzen. Welche Forscher und Wissenschaftler bieten uns selbst und anderen Erkenntnisse zur Wichtigkeit des Körpers in Bezug auf Emotionen? Ausgehend davon können wir Methoden entwickeln, die Verkörperung von Emotionen, ihre Verteilung auf größere Körperareale und die Fähigkeit zu fördern, sich diesen über längere Zeit auszusetzen – als Kernstrategie für die Verbesserung der emotionalen wie auch kognitiven und verhaltensbezogenen Erfolgssausichten bei allen Therapieansätzen.
Damasio (2004), ein auf die Emotionsphysiologie spezialisierter Neurologe, weist nach, dass emotionale Prozesse auf physiologischer Ebene im Gehirn und Körper entstehen, beginnend auf der Ebene der einzelnen Zelle mit elementaren Erfahrungen wie Anziehung und Abstoßung.
Pert (2001), eine Molekularwissenschaftlerin, der es als erste gelang, die Opiatrezeptoren im Gehirn zu lokalisieren, berichtet von Studien, die ergaben, dass eine emotionale Erfahrung unabhängig davon, wo im Gehirn oder Körper ihr Ausgangspunkt ist, physiologisch am Ende innerhalb von kürzester Zeit das gesamte Gehirn und den ganzen Körper erfasst.
Auch neuere kulturübergreifende empirische Untersuchungen zur Physiologie der Emotionen (Nummenma, L., Glerean, E., Hari, R., & Hietanen, J. K., 2013 & 2016) etwa in Finnland, Schweden und Taiwan verweisen darauf, dass der gesamte Körper physiologisch bei der Erfahrung einer ganzen Reihe von elementaren Emotionen beteiligt ist.
Das Ergebnis, dass die kompletten physiologischen Vorgänge im Gehirn und Körper bei einer emotionalen Erfahrung beteiligt sind oder sein können, lässt darauf schließen, dass der Schutz- und Abwehrmechanismus, diese stellenweise zu drosseln oder abzuschalten, sich nachteilig auf die Verarbeitung der emotionalen Erfahrung auswirken kann, und zwar aus einer Reihe von Gründen:
- Bestimmte Informationen von verschiedenen Teilen des physiologischen Systems des Gehirns und Körpers in Form der Emotion sind hierdurch möglicherweise nicht voll zugänglich, um adäquat verarbeitet werden zu können.
- Die Verarbeitung der Emotion kann dadurch behindert werden, dass eventuell deren natürlicher Fluss blockiert ist, der dafür sorgt, dass Emotionen über die physiologischen Gegebenheiten im Organismus überall hin strömen können.
- Der Impuls hinter einer Emotion kann, da diese aufgrund der körperlichen Abwehrmechanismen zurückgehalten wird und sich physiologisch in einer oder wenigen Regionen konzentriert, diese stark begrenzten Bereiche über Gebühr stimulieren, unter Stress setzen und dysregulieren, was es ihnen schwerer macht, sich der emotionalen Erfahrung auszusetzen und sie zu verarbeiten.
- Wie schon an früherer Stelle klargestellt, kann allein schon die Maßnahme, Teile des physiologischen Systems zu drosseln oder ganz abzuschalten, um mit einer unangenehmen Emotion fertig zu werden, den generellen Stress- und Dysregulationspegel im Organismus erhöhen. Das erschwert es womöglich noch zusätzlich, eine unangenehme emotionale Erfahrung zu generieren und zu verarbeiten. Dies gilt dann für das komplette physiologische System, ganz gleich, ob es sich um den Bestandteil handelt, der durch den Impuls hinter der Emotion im Übermaß stimuliert wird oder nicht.
Die oben angesprochene Erkenntnis,
- dass an Emotionen physiologisch potenziell das ganze Gehirn und der ganze Körper beteiligt sein können ;
- dass die physiologische Abwehr von Emotionen an bestimmten Stellen nicht nur die vollständigere Generierung und Erfahrung von Emotionen einschränken kann, sondern es womöglich auch erschwert, die Emotionen zuzulassen, die an einigen wenigen Stellen überhaupt noch erzeugt werden;
- dass Emotionen und ihre Verkörperung nicht nur wichtig sind, um emotionale, sondern auch um kognitive und verhaltensbezogene Schwierigkeiten aufzulösen, und
- dass der innere Raum für Emotionen und die Fähigkeit, diese zu bewältigen, nachweislich die langfristige Erfolgswahrscheinlichkeit nicht nur im privaten, sondern auch im beruflichen Leben verbessern,
stellt die wissenschaftliche Basis für die Entwicklung klinischer Strategien für die Arbeit mit Emotionen und für deren Verkörperung dar, mit deren Hilfe sich unabhängig vom Therapieansatz die Therapieerfolge in emotionaler sowie kognitiver und verhaltensbezogener Hinsicht verbessern lassen.
Mögliche positive Auswirkungen der klinischen Strategie der physiologischen Ausdehnung, um im Körper mehr Raum für die emotionale Erfahrung zu schaffen
Für mich mündeten die oben dargelegten Erkenntnisse und ihre Implikationen in die wichtige Einsicht, dass die Strategie einer physiologischen Ausdehnung des Gehirns und Körpers, um so die Generierung und das Erfahren von Emotionen physiologisch über ein größeres Areal von Gehirn und Körper zu verteilen, eine Reihe von Vorzügen bietet:
- Emotionen werden eventuell paradoxer Weise als leichter auszuhalten erlebt und können eher zugelassen werden als dann, wenn sie vielerorts abgewehrt und nicht zugelassen werden und nur an einigen wenigen Stellen entstehen können.
- Da Emotionen mit weniger Stress und Dysregulation einhergehen als dann, wenn sie nur an einigen wenigen Stellen generiert werden, dürfte der naturgegebene Widerstand gegen sie geringer ausfallen.
- Wenn der naturgegebene Widerstand gegen die Erzeugung und das Erleben unangenehmer Emotionen geringer ist, dürfte ein eventueller psychologischer Widerstand gegen diese Emotionen ebenfalls abgeschwächt sein, wodurch es leichter wird, sie durch die Arbeit auszuräumen.
- Da die weiträumiger verteilten Emotionen erträglicher sind, ist davon auszugehen, dass die Klienten sich ihnen länger aussetzen können. Das bedeutet die Ausbildung von mehr innerem Raum dafür, Emotionen, vor allem schwierige Emotionen, zulassen zu können – eine Fähigkeit, die in gewissem Umfang unabdingbar ist, um – auf welche Weise auch immer – mit Emotionen in Kontakt zu kommen und mit ihnen zu arbeiten. Und sei es nur, dass es darum geht, jemanden dazu zu bringen, überhaupt Emotionen zu generieren.
- Die Fähigkeit, schwierige emotionale Erfahrungen zuzulassen, verspricht auf längere Sicht größere Resilienz im Hinblick auf diese emotionalen Erfahrungen. Dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass die Person in Anbetracht solcher Erfahrungen ‚dicht macht‘ und Symptome entwickelt, beziehungsweise sie dürfte sich schneller wieder davon erholen, falls es doch dazu kommt.
- Da die Person mehr von der Emotion generieren, erfahren und zulassen kann, und das für längere Zeit, sind für das Gehirn mehr psychologische Informationen in Form von Emotionen abrufbar und können längerfristig genutzt werden. Hierdurch wächst die Wahrscheinlichkeit, dass im Ergebnis Verbesserungen auf der affektiven sowie der kognitiven und der Verhaltensebene eintreten.
- Da hinter jedem Verhaltensimpuls eine Emotion als treibende Kraft steht, erhöht die Zugänglichkeit eines Mehr an Emotion(en) für länger die Wahrscheinlichkeit, dass das Verhalten sich manifestiert. Daneben dürfte die Fähigkeit, die Emotion hinter einem Verhaltensimpuls länger zuzulassen, die Wahrscheinlichkeit mindern, dass die Emotion auf unangemessene Weise ausagiert wird.
- Die Fähigkeit, schwierige Emotionen zuzulassen und nicht auf unangemessene Weise auszuagieren sowie die Fähigkeit, sich ihnen länger auszusetzen, um mit kognitiven Mitteln zu prüfen, worin ihr Ursprung besteht, kann auf der Beziehungsebene enorme Verbesserungen mit sich bringen.
- Die Fähigkeit, Gegensätze zuzulassen, wurde in der Jungschen Psychologie als außerordentlich wichtig für die Individuation oder das persönliche Wachstum sowie die Abgrenzung herausgestellt.
Die Fähigkeit, Gegensätze im emotionalen Erleben zuzulassen, vor allem in Verbindung mit unangenehmen Lebenserfahrungen, wurde im Rahmen vieler Ansätze als wichtiges Attribut der spirituellen Entwicklung benannt.
Integrale Somatische Psychologie (ISP) und die Strategie der Verkörperung von Emotionen
Die Verkörperung von Emotionen, die Ausdehnung von Emotionen in möglichst weite Teile des physiologischen Systems hinein (tief oder eher oberflächlich, je nach den Möglichkeiten des Klienten) und die Entwicklung der Fähigkeit, die Emotion für längere Zeit zulassen zu können – all das ist eine zentrale klinische Strategie in der Integralen Somatischen Psychologie (ISP). Der von mir entwickelte Ansatz zielt darauf ab, die Erfolgsaussichten unterschiedlichster Therapieansätze zu verbessern und wir mittlerweile in mehr als einem Dutzend Ländern in aller Welt gelehrt.
Um eine umfassendere Verkörperung von Emotionen in möglichst weiten Teilen des physiologischen Systems zu fördern, baut ISP auf dem noch wenig verbreiteten Wissen um die physiologische Dimension der Emotionen und anderer psychologischer Erfahrungen auf, das vereinzelt in der universitären Forschung und im Rahmen diverser körperpsychotherapeutischer Schulen gewonnen wurde. Dieses Wissen bezieht sich darauf, wie die einzelnen Schichten des Körpers sowie des Muskel-, Organ- und Nervensystems zum einen Emotionen und andere psychologische Erfahrungen überhaupt erst entstehen lassen und zum anderen, wie sie diese abwehren und das Individuum vor ihnen schützen.
ISP greift auf einfache Mittel wie Selbstberührung und Bewegung zurück, statt auf solche komplexerer Art wie etwa das Verfolgen (‚Tracken‘) von körperlichen Empfindungen, um es Therapeuten unterschiedlichster klinischer Ausrichtung leichter zu machen, ihren Klienten auf ganz simple Weise zu helfen, Emotionen zu verkörpern und damit weniger Probleme zu haben. Zum Einsatz kommt ferner ein einfaches ModelI zur Selbstregulation, dessen Grundidee der ungehinderte Fluss im Blutkreislauf sowie der Signale im Nervensystem ist. Es zeigt auf, wie sich der Körper während der emotionalen Arbeit so regulieren lässt, dass auftauchende Emotionen einerseits nicht durch zu viel Regulation zunichte gemacht werden und andererseits sichergestellt ist, dass ein Zuviel an Emotion(en) nicht zu Überforderung, Dekompensation und psychophysiologischen Störungen führt.
Im Mittelpunkt von ISP steht ferner die Frage, auf welche Weisen Emotionen unterstützt, geweckt und für die gebotene Zeit aufrechterhalten werden können. Um eine vollständigere Einbindung von emotionalen Erfahrungen in die therapeutische Arbeit zu ermöglichen, arbeitet ISP nicht nur mit primären und sekundären Emotionen, sondern auch mit den besagten eigentlich häufiger vorhandenen sensomotorischen Emotionen, die leichter zu beobachten und eher körperliche Phänomene sind als im Gehirn angesiedelt.
Da zudem auch die Energiepsychologie noch weitere Wege bietet, die Verkörperung von Emotionen zu verbessern – zusätzlich zu der Arbeit mit dem physischen Körper, die in diesem Text erörtert wird – nutzt ISP die Erkenntnisse, die in der Energiepsychologie des Ostens zur Rolle des Energiekörpers beim Generieren sowie bei der Abwehr von Emotionen gewonnen wurden, um die Verkörperung von Emotionen im physischen Körper noch weiter zu verbessern. Zentrale Punkte zur Rolle des Energiekörpers bei emotionalen Erfahrungen werden nachfolgend in einem Anhang dargelegt. Nähere Einzelheiten und Beispiele zum ISP-Ansatz finden Interessierte in einem leicht verständlichen, im Stil eines Gesprächs gehaltenen Artikels mit der Überschrift What is Integral Somatic Psychology? A conversation with Raja Selvam. (Was ist Integrale Somatische Psychologie? Ein Gespräch mit Raja Selvam.)
Exkurs
Die Rolle der Energie bei Emotionen und ihrer Verkörperung
Auch die östliche Psychologie unterstützt die gewonnene Erkenntnis, dass eine emotionale Erfahrung potenziell globaler Natur ist, dass der Organismus als Ganzes hieran beteiligt ist und dass die partielle Drosselung physiologischer Vorgänge im Gehirn und Körper die Verarbeitung einer Emotion erschweren kann.
In der Energiepsychologie des Ostens besteht die Theorie, dass die physischen wie auch psychologischen Erfahrungen des Individuums das Produkt der unentwegten Interaktion zwischen zwei Körpern seien: (1) dem so genannten individuellen grobstofflichen und (2) dem individuellen feinstofflichen Körper. Der individuelle grobstoffliche Körper entspricht dem, was wir den physischen Körper nennen. In der Regel ist das der einzige Körper, der in der Vorstellung der Hauptströmungen der westlichen Wissenschaft und Psychologie unseren gesamten Erfahrungen zugrunde liegt. Aus der Quantenphysik wissen wir, dass sich unser physischer Körper aus der Quantenperspektive aus subatomaren Teilchen wie Fermionen und Bosonen zusammensetzt. Auf der Nicht-Quantenebene manifestiert er sich als zusammengesetzte Formen von Materie wie Neuronen, Muskeln, Knochenzellen und dem, wozu sie sich zusammenfügen.
In der Terminologie der östlichen Psychologie entspricht die Quantenebene unseres physischen Körpers der feinstofflichen Ebene des individuellen grobstofflichen Körpers und die Nicht-Quantenebene unseres physischen Körpers der grobstofflichen Ebene des individuellen grobstofflichen Körpers.
Der individuelle feinstoffliche Körper des Ostens ist das, was in der Energiearbeit oft als ‚Energiekörper‘ bezeichnet wird. Entsprechend Einsteins Auffassung, dass alle Materie Energie sei, verwendet die östliche Psychologie den Begriff ‚individueller feinstofflicher Körper‘ statt ‚Energiekörper‘ als Bezeichnung für einen nur auf der Quantenebene existierenden zusätzlichen Körpers des einzelnen Menschen, um unmissverständlich klarzustellen, dass Materie und Energie zweierlei sind. Der östlichen Psychologie zufolge ist der individuelle feinstoffliche Körper der Ursprung aller Impulse, aus denen schließlich unsere physischen wie auch psychologischen Erfahrungen hervorgehen. Dieser auf der Quantenebene angesiedelte feinstoffliche Körper interagiert mit der Quantenebene des feinstofflichen Körpers dahingehend, physiologische und psychologische Erfahrungen im individuellen grobstofflichen oder physischen Körper wachzurufen.
Wird es schwierig, eine Erfahrung zuzulassen oder zu ertragen, entsteht im feinstofflichen Körper eine Abwehr gegen diese, die wiederum bestimmte Muster von Schutz- und Abwehrmechanismen im grobstofflichen Körper hervorrufen, um die Erfahrung so zu bewältigen oder sich komplett gegen sie abzuschotten. Und da die Abschaltung von Teilen des grobstofflichen Körpers zur Abwehr psychologischer Erfahrungen die physiologischen Funktionen insgesamt beeinträchtigt und den generellen Stress- und Dysregulationspegel in die Höhe treibt, bewirken solche Abwehrmaßnahmen des feinstofflichen Körpers im Verbund mit den hieraus resultierenden Abwehrmaßnahmen des grobstofflichen Körpers, dass der individuelle grobstoffliche Körper physiologisch und psychologisch in seinen Möglichkeiten eingeschränkt wird.
Abwehrreaktionen des feinstofflichen Körpers nehmen die Form eines energetischen Ungleichgewichts an, bei dem sich die Energie an bestimmten Punkten konzentriert und an anderen dezimiert (Sills, 1997). Sowohl die Stellen, an denen sich die Energie konzentriert als auch solche, wo es an Energie mangelt, können eine defensive Funktion erfüllen, und die entsprechenden Regionen des grobstofflichen Körpers zeigen physiologisch gewöhnlich ein höheres Maß an Dysfunktion, Stress und Dysregulation. Konzentriert sich die Energie nicht zum Zweck der Abwehr in einer bestimmten Region (die Energie wird etwa genutzt, um diese Region zurückzunehmen oder zusammenzuziehen und so ihre Funktionsfähigkeit einzuschränken), kann die erhöhte Stimulation der Region im physischen Körper infolge des hohen Energiepegels dort zu einer Überfunktion der Region führen sowie zu einem erhöhten Maß an Stress und Dysregulation sowie potenzieller Dysfunktion.
So zum Beispiel kann die Energie des Herzzentrums sich im individuellen feinstofflichen Körper im Brust- und Kopfraum konzentrieren und gleichzeitig im Unterschenkelbereich massiv reduziert werden, um mit einer überwältigenden Trauer zurecht zu kommen. Die Konzentration von Energie im Kopf- und Brustbereich wird dann diese Regionen tendenziell überreizen, was die Trauer als Erfahrung dort womöglich sogar noch unerträglicher macht, obwohl diese Konzentration der Energie dort vielleicht auch ein Schutz- und Abwehrmechanismus ist, der dazu dient, diese Regionen so weit zu hemmen, dass die Trauer weniger heftig erlebt wird. Zudem kann die Konzentration der Energie in Richtung Kopf zu einer Überstimulation des Gehirns führen, die sich darin zeigen kann, dass das Kognitive in Bezug auf die Erfahrung der Trauer die Emotionen dominiert oder sogar darin, dass die Trauer im Gehirn mehr als im restlichen Körper erlebt wird.
Interessanter Weise konnten empirische Untersuchungen (Marcher & Fich, 2010) zu den psychologischen Funktionen der willkürlichen Muskulatur im Rahmen der Bodynamic Analysis, einem Körper-Psychotherapiesystem aus Dänemark, ermitteln, dass die Muskeln der Unterschenkelregion mit einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Kognition und Emotion in Bezug auf eine Erfahrung zusammenhängen!
Der östlichen Energiepsychologie zufolge ist eine ausgewogene Verteilung der Energie im feinstofflichen Körper nicht nur für eine ausgewogene Stimulation von kognitiven, emotionalen und verhaltensmäßigen Erfahrungen im grobstofflichen Körper von Bedeutung. Diese wird auch benötigt, um sicherzustellen, dass nicht ein Teil des grobstofflichen Körpers durch eine ungleiche Verteilung von Energie im feinstofflichen Körper nicht im Übermaß stimuliert, unter Stress gesetzt oder dysreguliert wird. Würde die derart konzentrierte Energie zu einer übermäßigen Stimulation einer Region im grobstofflichen Körper führen, um eine unangenehme emotionale Erfahrung zu erzeugen, so wäre diese Region einer stärkeren Ausprägung der Emotion und von daher mehr Stress und Dysregulation ausgesetzt – zusätzlich zu dem Stress und der Dysregulation, die bei der Entstehung der emotionalen Erfahrung dort im Spiel wären, wenn die Energie in ihrer Stimulation des grobstofflichen Körpers beim Hervorbringen dieser emotionalen Erfahrung mehr im Gleichgewicht wäre.
Die Betrachtungsweise der Integralen Somatischen Psychologie (ISP) fußt auf einfachen ‚Landkarten‘ zu den verschiedenen Arten von Energie des nicht ohne weiteres beobachtbaren und messbaren individuellen feinstofflichen Körpers, die überlagernd auf eine grobe Landkarte des leichter zu beobachtenden und messbaren physischen Körpers geschoben wird. Daneben kommen bei der Arbeit an Schutz und Abwehr gegenüber Emotionen und anderen psychologischen Erfahrungen im feinstofflichen Körper einfache Hilfsmittel wie Bewegung und Eigenberührung der Klienten zum Einsatz, um ein ausgewogeneres Verhältnis der Energien im Energiekörper wie auch im physischen Körper herzustellen, um so die Verkörperung von Emotionen im physischen Körper des Individuums zu erhöhen und bei Bedarf zu regulieren. Da die Fähigkeit, Gegensätze in Bezug auf eigene Erfahrungen (besonders unangenehme Erfahrungen) zuzulassen, wichtig ist, um die Gesundheit des Energiekörpers und seine Beziehung zum physischen Körper sicherzustellen, können Menschen, die auf dem Gebiet der Energiepsychologie tätig sind, ihre Arbeit verbessern, indem sie emotionale und andere psychologische Erfahrungen, die sie auf der energetischen Ebene bei ihren Klienten wachrufen, durch Integrale Somatische Psychologie (ISP) physisch verkörpern lassen.
Deutsche Übersetzung: Silvia Autenrieth
Literatur
Colombetti, G. & Thompson, E. (2008). The feeling body: Towards an enactive approach to emotion. In Overton W. F., Muller U., & Newman J. L. (Eds.), Developmental Perspectives on Embodiment and Consciousness (pp. 45-68), New York: Lawrence Erlbaum Associates.
Damasio, A. (2004). Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Berlin: List Taschenbuch.
Damasio, A. (2004). Der Spinoza-Effekt: Wie Gefühle unser Erleben bestimmen. Berlin: List Taschenbuch.
Dayananda, S. (2002). The teaching of the Bhagvad Gita. New Delhi: Vision Books.
Goodman, A., Joshi, H., Nasim, B., & Tyler, C. (2015). Social and emotional skills in childhood and their long-term effects on adult life. Abgerufen 12. November 2017 von der Website der Early Intervention Foundation, UK, http://www.eif.org.uk
http://www.eif.org.uk/wp-content/uploads/2015/03/EIF-Strand-1-Report-FINAL1.pdf
Jung, C. G. (2001). Die Struktur und Dynamik des Selbst. Aion – Beiträge zur Symbolik des Selbst. Gesammelte Werke Bd.9, Halbbd. 2, Düsseldorf: Walter-Verlag.
Khan, J. (2013). Can emotional intelligence be taught? The New York Times. Abgerufen am 11. November 2017 von der Website der New York Times
http://www.nytimes.com/2013/09/15/magazine/can-emotional-intelligence-be-taught.html?pagewanted=4&_r=1&adxnnl=1&adxnnlx=1379224864-47C4d1qa42Lar9ewjQxlPQ&
Laplanche, J. & Pontalis, J. (1973). Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft.
Marcher, L. & Fich, S. (2010). Body encyclopedia: A guide to the psychological functions of the muscular system. Berkeley, CA: North Atlantic Books.
Niedenthal, P. (2007). Embodying emotion. Science (316), 1002-1005.
Nummenma, L., Glerean, E., Hari, R., & Hietanen, J. K. (2013). Bodily maps of emotions. Abgerufen am 12. November 2017 von der Website der Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America unter
http://www.pnas.org/content/111/2/646.abstract
Nummenma, L., Glerean, E., Hari, R., & Hietanen, J. K. (2016). Bodily maps of emotions across child development. Developmental Science (19, 6), 1111-1118.
Pert, C. (2001). Moleküle der Gefühle: Körper, Geist und Emotionen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Sapolsky, R. M. (1998). Warum Zebras keine Migräne kriegen: Wie Stress den Menschen krank macht. München: Piper.
Sapolsky, R. M. (2017). Gewalt und Mitgefühl: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München/Wien: Hanser.
Sills, F. (1997). Energie-Arbeit. Mit Polarity-Massage den körpereigenen Energiefluß stimulieren, Energiezentren anregen, Blockaden und Stauungen auflösen. Leipzig/München: Goldmann.
Stolorow, R., Brandchaft, B. & Atwood, G. E. (1996). Psychoanalytische Behandlung: Ein intersubjektiver Ansatz. Frankfurt: Fischer Geist und Psyche